

Die Lektüre des Bandes
Stimmen der Völker
des Dichters und Philosophen
Herder, einemFreund Goethes, einemSchüler Kants und einembegeisterten
Rousseau-Kenner, prägt dann besonders stark und nachhaltig den jungen
Brahms, dessen von dieser neuen Quelle durchtränkte Feinfühligkeit
nochmal ein ganz eigenes Werk hervorbringen wird: die
Balladen
(Opus 10,
1854), deren vier Stücke genauso untrennbar miteinander verbunden sind
wie die Sätze einer Sonate.
Geoffroy Couteau betrachtet sie als
seine Lieblingspforte zur Vorstellungswelt von
Brahms pianistischem Werk, mit ihrer von Harmonik und Kontrapunkt geprägten
Struktur, die man in den Variationen wiederfindet, und der nostalgischen Ader, die
alle seine Kompositionen mit Blut versorgt
. Die Balladen, die von einer von Herder
übersetzten, schottischen Ballade inspiriert sind – ein Dialog zwischen einer
Mutter und ihrem Sohn, über dem der Schatten des Vatermordes schwebt – sind
eine lyrische Illustration des Textes ohne jemals auf irgendeine Art beschreibend
oder erzählend zu sein. Abgesehen von der Macht der Atmosphäre der nordischen
Sage und dem Gefühl von Gemeinschaft mit der Natur, die sie ausdrücken (eine
Atmosphäre und ein Gefühl, die im gesamten, dann noch kommenden Schaffen
mitschwingen werden), stellen sie vor allem den wahren Kern seines Begriffs
von Musik als Poesie dar: seine Wahl der „reinen“ Musik, die insbesondere der
Programmmusik, entgegengesetzt ist, eine Wahl gegen alles, was die Neue
DeutscheMusik (allen voran Liszt undWagner) mit demZusammenkommen aller
Künste imallgemeinenbefürwortet. InBezug auf die
Balladen
schreibt Schumann,
dessen labiler Gesundheitszustand ihn noch nicht völlig in die Tiefen gerissen hat,
vom Sanatorium aus an Clara:
Die wundervolle Erste klingt mir fremdartig neu; das
Ende ist fabelhaft, sehr originell. Und wie anders ist da die Zweite, wie verschiedenartig,
und suggestiv für die Fantasie. Es erklingen da Töne von magischer Schönheit! Die Dritte
ist teuflisch – wirklich ganz wunderbar, und sie wird immer geheimnisvoller… und in der
Vierten, wie fabelhaft da die fremdartige Melodie zögert zwischen Dur und Moll und dann
schaurig in Dur verweilt. Und jetzt ran ansWerk, an Ouvertüren und Sinfonien!
108 BRAHMS_DAS GESAMTWERK FÜR KLAVIER