

Liszts Schaffen ist das Kind von Proteus: Es wandelt sich
je nach Medium – Orchester, Stimme oder Klavier – und
erschafft Formen,wie die Rhapsodie, oder erfindet Genres,
wie die symphonische Dichtung. Alles macht es zu
seinemWerk. Besitzt es zudem, wie der Hüter der Herden
Poseidons, die Gabe der Prophezeiung?
Ein Großteil der Klavierwerke der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von Ravels
Jeux d’eau
bis zu den letzten Werken Skrjabins, von Prokofievs
2. Klavierkonzert
bis zu
Messiaens
Vingt regards sur l‘Enfant Jésus
, ist ihm zu Dank verpflichtet, sowohl von
den technischen Neuerungen her – Liszt ließ in seine Musik die innovative Lexik
einfließen, die ihm seine außergewöhnliche Virtuosität bot – als auch (und diesmal
noch zukunftsorientierter gedacht) von der tonalen Sprache her, die er gegen Ende
seines Lebens bis zu jenem Punkt getrieben hat, an dem alles kippt:
Nuages gris,
Bagatelle sans tonalité, Unstern, La lugubre gondola
öffnen Wege zu neuen Welten der
Harmonik, die im Schatten der Werke Liszts verweilen, bis Schönberg auf den Plan
tritt.
Wagner hatte vor ihm eher ihren Geist als ihre tatsächliche Machart erfasst, doch
hat er sie dann, indem er sie dem Theater anverwandelt hat, in gewisser Weise
verdorben: Der späte Liszt bewegt sich nämlich in die Richtung einer Abstraktion,
die unmöglich in eine dramatische Handlung umgeschriebenwerden kann.
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ROGER MURARO