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ROGER MURARO
... Die Klaviersonate kann nach Belieben « ausgespielt » werden, je nach Inspiration,
Charakter und Laune des Interpreten… Sie kann dem Moment folgen, dem
Gefühl, wo man zu stehen hat, erhaben! Und doch sind all diese unterschiedlichen
Interpretationen immer die Klaviersonate von Liszt.
Ich erinnere immer gerne an die Widmung für Robert Schumann, mit der Liszt das
Vorsatzblatt seiner Partitur schmückte, und ich sehe darin nicht nur eine schlichte
Danksagung an den Autor der
Fantasie
op. 17 für dessen Danksagung. Vielmehr erkenne
ich darin ein Symbol: zwei geniale Werke, zwei genialen Autoren gewidmet, mit
gegenseitiger Bewunderung und so etwas wie einer Identifizierung mit demWerk, das
einem selbst zugedacht ist.
Der Aufbau der Klaviersonate war mir natürlich vertraut, ich hatte sie analysiert… aber
als ich sie das erste Mal spielte, entging mir ihre wahre Dimension: ich war damals
zweiundzwanzig. Ihre Form löste sich in dem Schwung, den meine Jugend in sie
hineinpackte, auf… die Themen, die sie anführt, um sie dann in einem anderen Tempo
zu wiederholen, ihre so unterschiedlichen Charaktere luden mich ganz offenkundig
dazu ein. Liszts Klaviersonate, diese ganz eigenständige Figur, dieser Wachtposten des
romantischenKlaviers,konntedenjungenPianisten,derichdamalswar,nurdurchrütteln,
so sehr strotzt dieses Werk vor komplexen und brüsk einander gegenübergestellten
Gefühlen, die eine Einheit bilden und sich dann plötzlich verflüchtigen.
Aber kann die Klaviersonate in h-Moll tatsächlich alles aushalten, sowie ich es eben
behauptet habe? Ich weiß es nicht. Aber in meiner Jugend gab es für sie in meinem
Herzen einen Beweggrund, der sich von dem, den ich heute wahrnehme, unterscheidet.
Vielleicht gilt es, darindenAusdruck desWortes „Romantik“ zu erkennen, die die Literatur
so wunderbar vorweggenommen hat: Byrons Atem, das revolutionäre Engagement
Victor Hugos, die Träume Lamartines, Novalis‘, Hölderlins! Schiller und Goethe, von
denen die Sonate so passend den faustischen Geist wiedergibt. All diese Autoren
haben Liszts Gedankenwelt beeinflusst und auch seine zu jener Zeit jedes Mal Skandale
auslösenden Liebschaften mit gebildeten Frauen: mit Marie d’Agoult und Carolyne zu
Sayn-Wittgenstein.