

64 CHOPIN_POLONIA
Doch für Chopin, dessen Bibel
Das Wohltemperierte Klavier
war, stellte die
Polyphonie das höchste Bestreben seiner künstlerischen Reife dar. Nicht etwa die
akademische Polyphonie, wie Schumann sie ausschöpfte, ohne Liszt zu erwähnen,
der sich schon der Raffinesse der Klangfarbe oder der Auflösung der Harmonie
hingab – wobei beide Komponisten im Übrigen gegenüber Chopins Grammatik
nie gleichgültig blieben – sondern der farbenfrohen Polyphonie mit Stimmen von
unglaublicher Komplexität.
Dennoch scheint die erste
Polonaise
des
Op. 40
, die zumSinnbild des Genres wurde,
geradlinig, schlicht, metrisch, ein einfaches Manifest. Der Herausgeber gab ihr
den Beinamen „die Militärische“ und erhob sie zum Symbol. Zu Unrecht. Denn
Chopin schrieb 1838 bis 1839 zwei Polonaisen. Die düstere, manchmal morbide
Grübelei, wenn man sie nicht in einem zu raschen Tempo nimmt, der
Polonaise in
c-Moll
entgegnet der Militärischen in Form einer Verneinung und wirft damit alles
um. Ihre geschlossenen Formeln sind ebenso zwanghaft wie die brillanten und
bejahenden der Polonaise in As-Dur, eine Niederlage, eine Spaltung. Der düstere
Teil der Psyche des Komponisten gibt sich hier einem finsteren Tanz hin, dessen
Harmonie mehr als einmal verwirrt, und die nicht wirklich mit den beiden letzten,
energischen Akkorden schließt. Irgendwie muss man ja enden.