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PASCAL AMOYEL
Man möchte diese Werke fast verkörpern, aber neben einem ermahnt der Lehrer,
stellt Grenzen auf, sagt einem, noch bevor man mit dem Spiel beginnt, was
man nicht tun darf. Das vernichtet die Freude und Frische einer unmittelbaren
Auslegung, und die Arbeit befleckt eben dieses Gefühl der Neuheit und der
Entdeckung, schmettert jeglichen Schwung nieder. Dabei ist diese Frische das
Geheimnis von Chopins Inspiration. Sie muss um jeden Preis erhalten bleiben,
denn sie ist der beste Lotse, um seine Musik zum Strahlen zu bringen. „Respekt“
vorm Text ist ein Mittel, doch reicht es nicht als Ziel, vor allem, wenn die Partitur
versteinert, stirbt. So ergeht es Chopins Musik im Conservatoire. Das Werk ist
heilig, wie in einemMuseum, wird vergöttert und schließlich nicht mehr gehört.
Dann habe ich mit Chopins Musik eine zweite Enttäuschung erlebt, für die allein
ich verantwortlich war. Auch wenn man von einer ersten Intuition getrieben wird,
spielt man Chopin nicht so leicht. Sobald man gewisse Grenzen überschreitet,
verfällt man schnell in sinnlose Effekte und eine bestimmte Kälte. Chopins
Universum ist viel weniger offen als das von Liszt, das zu so vielen verschiedenen
Welten führt, ein derartiges Gefühl der Freiheit weckt. Bei Chopin ist in gewisser
Hinsicht alles fließender, wie bei Mozart oder Schubert. DieWelt ist geschlossener,
was ich nicht abwertend meine, und man muss eine bestimmte Einfachheit
anstreben. Als ich mich beim Spielen von Chopin aufnahm, war ich beim Hören
danach nie zufrieden. Ich fand darin nicht wieder, was ich zu spielen dachte. Die
Musik entzieht sich jeder Absicht.