

32 CHARLES-VALENTINALKAN
Und seine Musik fordert vom Interpreten sehr viel, er wird fast zu
sowas wie einemMedium…
Wie bei Skrjabin! Ist man nicht mit ganzem Herzen dabei, sollte man besser die Finger
davon lassen. Alkans Musik fordert einen dermaßen großen Einsatz, musikalisch,
körperlich und geistig! Das ist sicher auch der Grund, warum sie heute nur so selten
gespieltwird.ManmusseineganzeZeitdamitzuzubringen,AlkansSprachezuentziffern,
sich seinen Stil anzueignen, sich von seiner Poetik durchströmen zu lassen. Ist man erst
einmal eingetaucht in seineWelt, fällt es schwer, siewieder zu verlassen.Manhat bei ihm
oft den Eindruck, die Musik sei gar nicht für das Publikum geschaffen, so kodiert ist sie.
Nehmen wir zumBeispiel seine Sonate: die Zahl 4 ist dort allgegenwärtig, 4 Lebensalter,
4 Themen im Quasi-Faust zu 4 Hauptfiguren (Faust, Margarete, Gott und der Teufel), 4
Sätze, und das ganze Stück über Gruppierungen von 4 immer wiederkehrenden Noten
(wahrscheinlich eine Hommage an Bach)… Doch ist es die Aufgabe des Interpreten, sein
Werk stets so direkt wiemöglichwerden zu lassen, es liegt amAusführenden, zur Quelle
jener genialen Eingebung vorzudringen, der dasWerk entsprungen ist.
Geht er harmonisch betrachtet genauso weit wie die letzten
Kompositionen Liszts?
Ja und nein. Seine harmonische Kühnheit steckt zum Beispiel manchmal in den
Dissonanzen, in den „Zufälligkeiten“, in der recht eigenartigen Art und Weise, den
Zuhörer bisweilen brüskieren zu wollen oder auch einfach nur sich selbst keine Grenzen
zu setzen; und oft geht das einher mit einem literarischen oder realistischen Aufhänger,
wohingegen man das Gefühl hat, dass Liszt, trotz der Fülle an Titeln in seinen Werken,
die Musik sich selbst und für sich selbst entwickeln lässt. Es gibt bei Liszt eine Form des
Loslassens, die man – wie ich denke – weitaus weniger häufig bei Alkan antrifft. Für
mich ist er ein Schöpfer, der in der Erde wurzelt, im Lehm, und der, durch abenteuerliche
Kämpfe hindurch, aufsteigt zumHimmel.