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Wie hat man in dem Titel, den Vaughan Williams der Sammlung
Six
Studies in English Folksong
(1926) gegeben hat, den Begriff der „Studien“
zu verstehen?
Von dem Standpunkt eines Komponisten aus, der versucht hat, Volkslieder zu
bearbeiten. In dem Titel sind vor allem die Worte
English Folksong
wichtig. Diese
sechs Miniaturen sind unwiderstehlich und sie sind ein wunderbares Beispiel von
Liebesmusik.
Lovely on the Water, Spurn Point, Young Henry the Poacher usw.
: Diese
Folk songs
sind durch und durch
british
, sie sind der Ausdruck des reinen britischen
Geistes. Ich stelle mir die Jahre 1850-1900 in London vor mit einer Musik, die in ein
Programm mit ansonsten eher dichtergewobenen Stücken etwas frischen Wind
hineinträgt.
Ich hatte extrem große Freude daran, Stücke zu spielen, in denen man
unterschwellig, hinter der romantischen, der romantisierten Dimension der
Musik, spürt, wie da eine sehr alte Tradition mitschwingt; die Allgegenwart von
Volksliedern und Vokalmusik.
Eine längst vergangene Zeit, das Stimmliche, dorthin zurück trägt uns
auch das berühmte
Music for a while
von Henry Purcell. Warum haben
Sie hier das Arrangement von Michael Tippet gewählt?
Auch dieses Stück durfte in meinem Programm einfach nicht fehlen. Es boten
sich mir verschiedene Möglichkeiten, denn es gibt mehrere Arrangements von
Music for a while
. Der Reichtum in Tippets Umsetzung, der tiefere Atemzug darin
haben mich begeistert. Die Art, wie Thomas Hoppe es sich vorstellte, war für mich
ebenfalls sehr anregend, sowie – selbstverständlich – die Schönheit des von Purcell
genutzten Textes: eine echte Liebeserklärung an die Musik.
ADRIEN LA MARCA
ENGLISH DELIGHT
Ein anderer Juwel, jüngeren Datums diesmal, denn er stammt aus dem
Jahr 1993, ist
Chant for viola solo
für Bratsche solo von Jonathan Harvey…
Mir war es wichtig, einen Komponisten, der 2012 von uns gegangen ist, mit einem
kurzen Stück, das gut in das Programm passt, zu würdigen. Man kann
Chant for
viola solo
mit einer liturgischen Beschwörungsformel vergleichen. Man findet
darin bisweilen das Skandieren wie bei einem Ritual, mit einer fast animalischen
Dimension. Es handelt sich um eine für skordierte Bratsche ausgeschriebene
Improvisation: die a`-Saite ist einenViertelton runtergestimmt und klingt dadurch
leicht „falsch“, eine „Verstimmtheit“, in der, im Zusammenspiel mit den Obertönen,
meinem Empfinden nach die ganze Schönheit steckt; die d`-Saite bleibt
unverändert, die g-Saite wird zum fis und die c-Saite zum cis. Es ist ein Stück mit
sehr starkem Beschwörungscharakter (Harvey schreibt
With ceremony
), zwischen
Himmel und Erde, das das Gefühl einer Geisteranrufung erweckt. Seine religiöse
Tiefe kann mit den Stücken Dowlands oder Purcells, die ich ausgewählt habe, in
Verbindung gebracht werden, aber auch mit manchen Momenten von Clarkes
Sonate
und natürlich auch mit Brittens
Lachrymae
.
Wenn man diese Musik spielt, empfindet man eine sehr große Freiheit.
Übrigens passt der Begriff der Freiheit ganz allgemein sehr gut zum englischen
Repertoire. Man fühlt sich frei, und diese Freiheit ist in allem spürbar, im Klang,
in der Phrasierung, und sie bewirkt ein sehr direktes Erleben. Ich hätte andere
zeitgenössische Stücke wählen können, aber aufgrund meiner Erfahrungen
von
Chant for viola solo
in Konzerten weiß ich, wie sehr dieses Stück die Zuhörer
beeindruckt.