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Die Komponistin ist ja auch Bratschistin; ich kann mir vorstellen, dass
das auch Auswirkungen auf die Musik hat?
Ja,genau,diese
Sonate
wurdevoneinerBratschistingeschrieben,undzwarvoneiner
sehr guten Bratschistin! Sie hat es geschafft, die schönsten Facetten der Bratsche
aufzuzeigen, die Tiefe ihres Klangs, aber auch ihre hohen Lagen, ihre Virtuosität.
Denken Sie einmal an den zweiten Satz, das sehr schelmische
Vivace
, das aber auch
einen zentralen Moment enthält, der schon fast etwas Religiösem gleichkommt.
Clarke muss viel Bach gespielt haben… Der Schlusssatz wiederum, das
Adagio-
Allegro
, erweist sich als sehr weit entwickelt und von einem überraschenden
Reichtum. Es beginnt mit einem großen Gesang, der sich entwickelt und entfaltet
und dann nach und nach noch weiter an Kraft gewinnt, bis hin zu dem finalen
Höhepunkt.
Von vorne bis hinten stützt in diesem Werk das Klavier mithilfe eines reichen,
harmonischen Grunds die sehr kontrastreiche Musik, die stets in Bewegung ist –
eineMusik, die erzählt. Es ist interessant, dass Rebecca Clarke ihrer
Sonate
folgende
Verse aus
La Nuit de Mai
von Alfred de Musset als Epigraph voranstellt:
Poète, prend
ton luth ; le vin de la jeunesse / Fermente cette nuit dans les veines de Dieu.
(Dichter, greif
zur Laute; in dieser Nacht gärt in den Venen Gottes / Der Wein der Jugend.) Wenn
ich mich an dieses Werk mache, habe ich den Eindruck, ein Buch aufzuschlagen,
das eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten enthält. Und es ist eine schöne
Geschichte!
ADRIEN LA MARCA
ENGLISH DELIGHT
Kommen wir zu den Werken, die auf der Platte versammelt sind, und
zu den Gründen, die Sie dazu gebracht haben, genau diese Stücke
auszuwählen. Sie beginnenmit der imposantesten Partitur des gesamten
Programms, mit der
Sonate
von Rebecca Clarke aus dem Jahr 1919…
Ich wollte unbedingt diese Partitur einspielen. Sie ist der zentrale Pfeiler des
Programms. Sie ist aufs Engste mit meinem Werdegang verknüpft, denn sie ist
das ersteWerk, das ich, mit 16, mit meinem Lehrer Jean Sulem am Konservatorium
in Paris erarbeitet habe. Ich hatte sie über eine Platteneinspielung entdeckt und
konnte damals kaum erwarten, sie selbst zu spielen. Ich erinnere mich noch sehr
gut an das Klassenvorspiel, bei dem ich den ersten und den zweiten Satz gespielt
habe.
Diese
Sonate
ist vor allem sehr stimmungsvoll, das zeichnet sie aus. Man findet
darin Tiefe und Leichtigkeit. Nehmen wir zum Beispiel das
Impetuoso
vomAnfang,
mit einem ruhigeren, sehr melodiösen Hauptteil, in dem die Bratsche mit dem
Klavier in einen überaus zarten Dialog tritt. Es erinnert einen manchmal fast an
französischeMusik, anDebussy undRavel, undmanchmal glaubtman auch
Tristan
zu hören. Clarke, so scheint mir, wurde von vielen verschiedenen Arten von Musik
beeinflusst und hat es in diesemWerk geschafft, aus vielen verschiedenen Dingen
und natürlich auch aus sich selbst das Beste herauszuholen. In ihrer Partitur ist
alles ganz genau ausgeschrieben; man versteht sofort, was sie will, und ihre
Angaben tragen zu einer Sprache von sehr ausgeglichener Stimmung bei.