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GEOFFROY COUTEAU ∙ ORCHESTRE NATIONAL DE METZ 35 Doch obwohl die ersten Kritiker dies manchmal glauben ließen, ist das Maestoso keineswegs ein Concerto grosso mit Klavier! Glenn Gould schrieb in seinem Artikel „N’aimez-vous pas Brahms?“ von einem „seltsamen“ Stück aufgrund „dieses Kampfes der Fantasie – unperfekt und markant verleiht er dem Werk Leben – entgegen der Forderungen der klassischen Praxis“. Unter der scheinbaren Unbeholfenheit versteckt sich die von Schönberg betonte Mehrdeutigkeit, über die seiner Meinung nach besonders Brahms hinauswächst. Stattdessen bildet dieser Nonkonformismus gemeinsam mit einem gewissen Akademismus laut Schönberg den Brahms’schen „Progressismus“. Für sie nährt sich das Leben nicht von einer Aufhebung der Vergangenheit, sondern von der Erhöhung seiner Traditionen. Gleich ab der anfänglichen Explosion, eine Art Ursturm mit zornigen Rufen der Streicher und Unterstützung der Pauken, gelangt man ohne Umschweife in eine gigantische nordische Ballade, ein Fresko, in dem Schrecken, wilde Kraft und Zärtlichkeit zu einer wunderlichen Lyrik verschmelzen. Ein wahrhaftiges musikalisches Bibel-Monumentalwerk, dessen evokative, kraftvolle und erdige Triller später vom Klavier aufgegriffen werden (sie erinnern an Beethovens „Hammerklaviersonate“) und Moses‘ Aufforderung an das Meer, sich vor ihm zu teilen, zu verkörpern scheinen. Das Hinzustoßen des Klaviers, lange nach der Einleitung, wirkt wie eine Erscheinung, wie ein Weiser, der gelassen über die aufgewühlte See läuft. Sie steht in radikalem Kontrast zu dieser Flut, als wolle sie sie beschwichtigen, bevor sie die thematischen Elemente aufgreift. Den gesamten Satz hindurch bleibt das Klavier auch in dominanten Momenten Teil der wogenden Orchestermasse und setzt der im Konzertgenre vorherrschenden rituellen Konfrontation ein Ende.
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