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FLORIAN NOACK 43 Ich verspüre auch diese recht erstaunliche und für einen Etüden-Zyklus etwas paradoxale Ausgewogenheit. Beim Titel, der zu Deutsch „Etüden von übernatürlicher Ausführung“ bedeutet, hätte man eine Überbietung seines Vorgängers erwarten können. Jedoch erschienen mir Liszts Etüden schon immer extremer, spektakulärer – wahrscheinlich wusste Liszt, dass er in seinen Études alles übertraf, das bis dahin für das Instrument geschrieben worden war. In gewisser Hinsicht bilden das Übertreffen und Überschreiten einen Teil ihrer Identität. Ljapunow hingegen war kein Revolutionär. Er war sich sehr wohl bewusst, was er seinen Vorgängern, die er so bewunderte, schuldete. Obgleich er zu Lyrik, Schwung und Bravour fähig war (und er war ein brillanter Pianist, was einige Aufnahmen bezeugen), stelle ich mir vor, dass dieses Bewusstsein wie eine Barriere oder ein Gegenmittel gegen jegliche Art von Ausschreitung, plakative Virtuosität und zügellose Romantik gewirkt haben muss. Und obwohl seine Musik fast immer einen Drahtseilakt verlangt – sicher gewollt, seiner Ausbildung zum Virtuosen geschuldet – scheint er mir in Wahrheit eher zur Innenschau zu neigen. Vielleicht zwang er sich ein wenig zur Raserei in Lesghinka , zum Höhepunkt der finalen Élégie . Doch in Berceuse oder Nuit d’été habe ich den Eindruck, seine eigene Stimme zu hören, die inmitten all der anderen dennoch zu erkennen ist.

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