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DAVID GRIMAL 53 Der Pädagoge Ysaÿe hatte zahlreiche Schüler mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten. Könnte man von einer „Ysaÿe-Schule“ sprechen? Es überdauern einige Zeugnisse seines Geigenspiels, jedoch zu wenige, um sich ein vollständiges Bild von seiner Kunst machen zu können. Ysaÿe war ein charismatischer Musiker und Mensch, der bei allen Geigern, mit denen er arbeitete, einen tiefen Eindruck hinterließ. Statt „Schule“ bevorzuge ich „Inspirationsquelle“. Intuitiv habe ich das Gefühl, dass Ysaÿe eher eine Kreuzung als eine Quelle war, dass er eher ausstrahlte als Wege bahnte. Die großen Violinisten gründen keine „Schule“, sondern sind Leuchtfeuer, die die Generationen überdauern und weit über ihren Rahmen hinaus inspirieren. Natürlich kann man einige seiner Schüler erwähnen, wie etwa Louis Persinger (der unter anderem Lehrer von Yehudi Menuhin, Ruggiero Ricci und Isaac Stern war) sowie Josef Gingold, legendärer Lehrer von Miriam Fried, Gil Shaham, Leonidas Kavakos, Joshua Bell und vielen weiteren in Bloomington, Indiana. Zum Schluss möchte ich Gingold zitieren: „Heute [in den 90er Jahren] haben sich die Zeiten geändert. Im Computerzeitalter ist das Können auf der Geige größer denn je. Ein beliebiger Geiger eines Orchesters könnte aufstehen und in vier Sekunden ein Konzert von Brahms spielen. Dennoch scheint mir das Niveau der großen Künstler damals höher gewesen zu sein. Sie hatten eine Eleganz, einen Ausdruck, Farben… Es war natürlich eine andere Welt…“ Mit Tränen in den Augen erinnert sich Gingold in einem schönen Dokumentarfilm, der online zu finden ist, an einige Noten von Chaussons Poème , die Ysaÿe spielte. In der Tat war es eine andere Welt: Die Geige war die Verlängerung der Seele des Musikers, und genau das kam das Publikum anhören.

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