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52 PROKOFIEV_ FLÜCHTIGE ERSCHEINUNGEN Gerade in dieser KlaviersonateNr. 6 inA, Op. 82 spielt der Schlag eine zentrale Rolle. Im Akt, das Klavier zu schlagen , gibt es etwas wie eine innewohnende Gewalt. Es gibt bereits einen Affekt, dessen Art man zu erschließen versucht ist; dem man gerne Absichten unterstellen würde. Es bräuchte nicht viel, damit man die Wut ergreift, welche die leidenschaftlichsten Noten zu vermitteln scheinen. Aber all das ist nur Phantasie. „Mit der Zeit und der Erfahrung wird der Interpret von einer ganz klein bisschen trockeneren Lesart der Partitur angezogen, einer Lesart, welche sich von der Erzählung entfernt, um sich in einer einfachen Textlektüre wiederzufinden.“ Kann das Werk vollständig von der Übertragung der Phantasie und der Empathie seines Lesers befreit werden? Guy Sacre erinnert an diese Anekdote, welche Florian Noack sehr beeindruckt hat: In Caravaggios David und Goliath ist der blutige Kopf von Goliath wahrscheinlich eine Selbstdarstellung des Künstlers, während der junge, bartlose Mann mit nacktem Oberkörper, der ihn in der Hand hält, einer seiner Assistenten sein könnte. Das ist ein narratives Element, das die Phantasie desjenigen anregt, der vor demWerk steht. Er sieht nichts mehr als diese alternative Realität und seine möglichen Verzweigungen. Er sieht weder das Alte Testament, noch das Buch Samuel, noch die Philister; er sieht nichts mehr, außer der homoerotischen Last, welche gegen alle Berufsabkommen verstößt, die einen Handwerker und seinen jungen Assistenten verbinden. Ebenso geht es der Musik: auf ihren kalten Noten etwas Leben der Menschen zu hinterlassen, bedeutet schon, den Sinn zu verändern.

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