29 FLORIAN NOACK Ganz Berlin ist zu jener Zeit anstößig: Die Kabaretts sind unverschämter als anderswo, und München beginnt zu murren, wenn es aus der Ferne die jüdischen Komponisten hört, die das Althergebrachte umstoßen: Weill und seine mörderischen Helden, Spoliansky, der die erste Hymne der Homosexuellen schreibt, und Schulhoff, der sich mit Jazz herumtreibt. Die beiden Ersteren werden bald fliehen können, doch Schulhoff wird im Lager sterben. Berlin feiert ausgelassen, anrüchig, trunken, ein berauschendes Paradies: Ein gewisses Deutschland will den Ersten Weltkrieg vergessen, und während das Fest in vollem Gange ist, fliehen die Achtsamsten bereits, als sie mancherorts die Faschisten ihre Gewehre für den nächsten Krieg polieren sehen. In wenigen Jahren wird diese Musik für die Anhänger des Hakenkreuzes als entartet gelten. Doch hier und jetzt im Bœuf sur le toit sind alle da, derart viele, und unter all den trinkenden und rauchenden Köpfen entdeckt man Jean Cocteau, der trommelt, und Francis Poulenc, der die Truppe verschmitzt anschaut. So ein Gedränge. Man weiß nicht mehr, was man hört. Das ist normal; das ist Jazz. Aus dem Getöse brechen einige Worte hervor, Namen: Stride, Musik, bei der die linke Hand der Pianisten den Bass gefährlich anschlägt; Fats Waller… Fats? Aber ja doch, weil er rundlich ist, doch sein Jazz lässt die Tänzer teuflisch zappeln… James P. Johnson, schon bodenständiger. Wer? Johnson und sein Ragtime, der Grenzen durchbrochen hat. Ein Bass, ein Akkord, ein Bass, ein Akkord und Synkopen, die Walzertänzer plagen.
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