Inwiefern ist die Sechste Nocturne originell, und wie gehen Sie sie an? Die Musik täuscht. Sie kennt keine Schwerkraft und gibt Schwerelosigkeit vor. Die Klangebenen halten sich untereinander wie durch Magie aufrecht und vermischen sich untrennbar. Die Passage im Dreiertakt klingt wie ein Zweiertakt. Die rhythmischen und harmonischen Orientierungspunkte sind gestört, verwischt: Die ersten Taktzeiten verbergen sich, das Konzept der betonten und unbetonten Zählzeit verschwindet, die Kanten verschwimmen, „das Ungenaue verwischt das Genaue“, wie Jankélévitch goldrichtig sagte! Die ursprüngliche Melodie, die nicht mit einer betonten Zählzeit beginnt, ist wie ein langer, hängender Draht. Um die Musik zu unterstützen und ihre verschiedenen Sequenzen vereinen zu können, habe ich beschlossen, mich möglichst nah an die Tempoangaben des Komponisten zu halten. Auch die spätere traumhaft anmutende Sechzehntelnoten-Passage auf den hohen Tasten fordert ein schnelles Tempo, wobei die obere, „schwebende“ Melodielinie von einem Halbpedal unterstützt wird. Als das anfängliche Thema in der Coda wiederauftaucht, empfindet man erneut dieses Gefühl des Stillstands. Die Sechste Nocturne ist ein Meisterwerk. Ich komme nicht umhin, die mit ihr verbundene Anekdote zu erzählen: Als eine Frau Fauré fragte, in welcher fantastischen Landschaft er die Inspiration dafür gefunden hatte, antwortete er: „im Simplontunnel“! 43 THÉO FOUCHENNERET
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