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35 MICHEL DALBERTO Liszt weigerte sich nahezu systematisch, seinen Schülern die Klaviersonate beizubringen, da sie zu persönlich sei. Wie nehmen Sie den autobiografischen Aspekt der Partitur wahr? Tatsächlich machte Liszt keine Angaben, was paradoxerweise recht bezeichnend ist. Allerdings erlaubt eine gute Analyse des Werks, gewisse Ursprünge zu verstehen. Beachten Sie die beiden ersten absteigenden Tonleitern des Werks. Jede beruht auf einem unterschiedlichen Modus. Die erste Tonleiter (0'05 bis 0'13) ist nach dem Dorischen Modus aufgebaut, der in der Kirchenmusik verwendet wird, und die zweite (0'19 bis 0'28) nach der ungarischen oder Zigeunertonleiter. Der Glaube und der politische, wenn nicht patriotische Aspekt – Liszt kannte sein Herkunftsland gewiss wenig, aber achtete sehr auf die Geschehnisse dort – bilden zwei Säulen, auf die sich die Klaviersonate stützt. Die absteigenden Tonleitern werden vor dem Fugato (18'39 bis 19'04) wiederholt, dann ganz am Ende noch einmal (29'01 bis 29'22), als versichere man sich des Fundaments. Anton Bruckner griff dasselbe Prinzip in seiner 5. Sinfonie auf. Weitere Analyseelemente: Der langsame oder zweite Satz der Klaviersonate ist ein Lied (ab 12'14), eine der einfachsten Musikformen. Damit wollte Liszt seinen sehr simplen, unkomplizierten Glauben ausdrücken. Natürlich kehrt die Versuchung schnell zurück, und beide treten in einem bitteren Kampf gegeneinander an. Das ruhige und tröstende Ende der Klaviersonate scheint jedoch darauf hinzuweisen, dass er seine Seite gewählt hatte. Das Lied beginnt mit einer Kadenzformel: Wollte uns Liszt bedeuten, dass das Gebet etwas Finales ist?

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