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BEATRICE BERRUT 57 Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain; / der Mond läuft mit, sie schaun hinein. / Der Mond läuft über hohe Eichen, / kein Wölkchen trübt das Himmelslicht, / in das die schwarzen Zacken reichen. / Die Stimme eines Weibes spricht: / «Ich trag ein Kind, und nit von Dir, / ich geh in Sünde neben Dir. / Ich hab mich schwer an mir vergangen; / ich glaubte nicht mehr an ein Glück / und hatte doch ein schwer Verlangen / nach Lebensfrucht, nach Mutterglück / und Pflicht - da hab ich mich erfrecht, / da ließ ich schaudernd mein Geschlecht / von einem fremden Mann umfangen / und hab mich noch dafür gesegnet. / Nun hat das Leben sich gerächt, / nun bin ich Dir, o Dir begegnet.» / Sie geht mit ungelenkem Schritt, / sie schaut empor, der Mond läuft mit; / ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht. / Die Stimme eines Mannes spricht: / «Das Kind, das Du empfangen hast, / sei Deiner Seele keine Last, / o sieh, wie klar das Weltall schimmert! / Es ist ein Glanz um Alles her, / Du treibst mit mir auf kaltem Meer, / doch eine eigne Wärme flimmert / von Dir in mich, von mir in Dich; / die wird das fremde Kind verklären, / Du wirst es mir, von mir gebären, / Du hast den Glanz in mich gebracht, / Du hast mich selbst zum Kind gemacht.» / Er fasst sie um die starken Hüften, / ihr Atem mischt sich in den Lüften, / zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht. Verklärte Nacht Richard Dehmel (* 18.11.1863, † 08.02.1920)

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