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56 MAHLER ∙ SCHOENBERG / JUGENDSTIL „Oh meine Mathilde, wenn ich Dich ansehe, sehe ich Schönheit! Ich stelle mir vor, wie Du in der kahlen und düsteren Nacht an meinem Arm gehst. Du trägst eine Last unter Deinem Herzen, derer Du Dich schämst. Aber ich, der Dich über alles liebt, werde sie mit Dir tragen, um sie Dir zu erleichtern. Denn wir gehen zusammen einer neuen Morgendämmerung entgegen.“ Was er ihr noch nicht zu sagen wagt, schreibt er. Tag um Tag, bewegt von der eindringlichen Vorstellung ihrer weichen Taille, ihrer weißen Hände, ihrer glänzenden Haare, von denen er träumt, dass sie wie ein Wasserfall bis zu ihren Lenden rinnen, knetet und walkt er die Noten seines Sextetts, wirft sie aufs Papier wie Handvoll reifen Weizens, den Bauch geplagt von Hunger auf warmes Brot. Richard Dehmel, der Dichter, traf es in Verklärte Nacht genau: Liebe ist größer als die Gespenster der Vergangenheit! Wahre Liebe verzeiht, nimmt an, teilt das Leid. Er ist gelassen, weil er weiß, dass sie ihm gehören wird, und er schwelgt in der köstlichen und unerträglichen Erwartung, die seine Musik und seine Leidenschaft erhöht. In der Abenddämmerung scheint ihm, dass sich die weiblichen Kurven mit den Wogen der Melodien mischen, die er am Tage komponiert hat, und sich zu einer glühenden Scheibe vereinen. Als die Sonne am Horizont verschwindet, gehen sie beide heim ins kleine Landhaus, die Wangen heiß, trunken und fast beschämt wegen der betäubenden Stille, mit der sie das Feuer der Schwarza verglühen und jenes der Sterne aufleuchten gesehen haben.
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