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BEATRICE BERRUT 55 Ihrer Pein ausgeliefert bemerkt sie nicht sofort die Silhouette des Mannes, der mit leicht verlegener Mine und hinterm Rücken verschränkten Händen langsam auf sie zukommt. Er ist stämmig und hat das verschlossene Gesicht der Menschen, die sich selbst gegenüber kompromisslos sind, aber seine Augen glühen feurig, als er sie anblickt. Was seine Haltung zu verbergen versucht, drückt sein Blick aus, und sein Begehren umgibt ihn, ohne dass er es merkt. Erstaunt dreht sie ihm den Kopf zu. Alexander, ihr Bruder, bat ihn, sie in den Urlaub in Payerbach zu begleiten. Der junge Mann ist einer seiner Schüler, ein Cellist, den er nach einer Probe des Orchesters Polyhymnia kennengelernt hatte. Sie denkt mit einem zarten Lächeln an die damaligen Worte ihres Bruders: dass er keine besondere Veranlagung für das Cello habe. Jedoch wird immer offensichtlicher, dass er ein kühner Komponist mit Zukunft ist. Sie selbst hat ihn kurz zuvor bei einer Feier der Champagner-Gilde getroffen. Selbst umgeben von allen revolutionären Künstlern Wiens schien er seinen gewohnten Ernst nicht abzulegen. Dabei hörte sie Richard Specht sagen, dass dieser etwas eigentümliche und zurückhaltende Mann einer der „fesselndsten, problematischsten, beunruhigendsten“ Protagonisten des Jung-Wiener-Kreises sei. Als sie sieht, dass er neben ihr anhält, durchzuckt sie der Gedanke des Feuers unter dem Eis wie ein Blitz, und sie schauert. Er ist stumm, aber der leichte Wind, der die reifen Felder rundherum streichelt, und das Hin und Her des Wassers zu ihren Füßen sprechen für ihn.
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