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54 MAHLER ∙ SCHOENBERG / JUGENDSTIL Die letzten Sonnenstrahlen lassen den kleinen Fluss Schwarza erglühen. Die Frau steht still am Ufer, und ihr Blick verliert sich im klaren Wasser. Sie scheint jenseits der Zeit. Und doch wird die Zeit wie die Wellen voranschreiten und sie heilen. Sie hält an diesem Gedanken fest. Als sie Wien am Ende dieses erstickenden Sommers verlässt, hofft sie, dass sich ihre letzten Illusionen in den Ausdünstungen der überhitzten Stadt verflüchtigen. Vor noch so kurzer Zeit war sie verlobt und glücklich und stellte sich eine Zukunft vor, in der jeden Tag eine Hand die ihre halten würde. Doch dies wird nie geschehen. Verlassen und verstoßen ist sie niemand mehr und möchte nicht mehr existieren. Die Wiener Fassaden scheinen sie zu verhöhnen und ihre Abreise abschätzig zu beobachten. Sie hasst Wien ebenso sehr wie sie ihn liebt. „Wie ist mir diese Existenz unerträglich. Jede Sekunde ist ein Dolch, den mir meine Erinnerung in die Brust treibt! Ich habe so sehr von diesem sanften Gesicht geträumt, von dieser stets reinen Stimme, diesen Blicken, die mich schön machten… Welche Bedeutung hat mein Leben ohne ihn? Mitleid zwang meinen Bruder, mich auf Reisen mitzunehmen, und ich bin ihm gram, so tief in mir meine Schwäche zu sehen. Denkt er, dass ich anderswo als Wien aufhören werde, an jene Abende zu denken, an denen die Liebe heller leuchtete als die Sterne? Denkt er, dass dieser Mann, der uns begleitet, mich von meinem Leid ablenken und mich meinen Schmerz vergessen lassen kann?“ ... Schoenberg Payerbach, September 1899
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