LDV100

Es hat den ganzen Tag geregnet, und endlich lässt es nach. Draußen tropft es vom Dach des Häuschens, und der Geruch von Erde dringt bis zum Kamin vor. Die Pflanzen sind wasserdurchtränkt und leuchten durch Nebelschals, die sachte dahinziehen. Er spürt, wie die Nässe und Kälte sein Rückgrat hochkriechen, aber achtet nicht darauf. Er ist über sein Papier gebeugt, hat die Stirn in der tintenbefleckten Hand. Jetzt lebt er, jetzt erfüllt er seine heilige Pflicht: Das Jahr als Direktor der Wiener Hofoper hat ihn erschöpft, und jedes Jahr am Dirigentenpult scheint ihn von seinem Weg abzubringen. Er muss schreiben, die Musik herauslassen, die ihm den Bauch zerreißt, wenn er nicht sterben will. Die Ärzte haben ihn gewarnt, dass ihn seine Darmblutung ohne ihren Eingriff besiegt hätte. Hinfort von Angst geplagt komponiert er. Es ist ein gottloser, lichtloser Sonntag voller Sorgen und Einsamkeit, erdrückt von einem unendlichen Streben, das nie Erfüllung findet, doch die Musik nimmt eine entscheidende Wende unter seiner Feder. Er wird missverstanden, aber was kümmert es ihn? Er weiß, dass er der Schöpfer einer neuen Sprache ist, und nichts kann sich seiner Überzeugung in den Weg stellen. „Ich stoße mit dem Kopf gegen die Wand, aber immer ist es die Wand, die nachgibt“, sagt er oft vor sich hin. ... Mahler Sommer 1901 Adagietto der Fünften Sinfonie 50 MAHLER ∙ SCHOENBERG / JUGENDSTIL

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