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Die Barcarolle oder der Höhepunkt der Kunst des späten Chopins … Sein Komponieren erreicht hier einen ungeheuren Reichtum: Eine harmonische Überfülle und eine perfekt in das musikalische Gewebe eingelassene Polyphonie. Zuerst gibt es da die wunderbare Einleitung mit dieser großen None – eine zur Zukunft hin geöffnete Tür –, die explodiert und in einer Abfolge von Akkorden auseinanderfällt, und darin zeichnet sich, wie an vielen anderen Stellen desWerkes, das Suchen des Impressionismus ab. Nach dieser kurzen Einleitung beginnt eine sehr schlichte Barcarolle-Begleitung: Noch ahnt man nichts von den Dingen, die da kommenwerden, mit einer Freiheit, die sich nach und nach ihrer selbst bewusst wird. Man hat den Eindruck, als gäbe es keine Ecken mehr, keine Konturen, das Werk fließt mit absoluter Natürlichkeit in den erstaunlichsten Harmonien dahin. Kurz vor dem unglaublichen Abschnitt, der mit dolce sfogato überschrieben ist, in einem Moment, wo die Zeit stillzustehen scheint, findet sich eine Reihe von Akkorden in der mittleren Lage, die im chromatischen Weitergleiten modulieren (Takte 72 bis 77): Das ist fast schon wieWagner, und man kann nicht umhin, an den zweiten Akt von Tristan zu denken … Chopin ist in der Barcarolle sehr weit gegangen, es ist ein wenig, wie als habe er bereits ein anderes Ufer erreicht. Das italienische Leuchten, von dem ich weiter oben sprach, ist hier unbestimmter und durch ein wenig Nebel gemildert, und die Wasser der venezianischen Lagune, wo Chopin niemals war, inspirieren ihn zu einemMeisterwerk, in demder Todmit einer nun errungenen Heiterkeit behandelt wird, in dem, was Ravel ein „geheimnisvolles Finale“ nannte. 51 PHILIPPE BIANCONI

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