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PHILIPPE BIANCONI 43 DIE MODERNITÄT CHOPINS Wie kam es zu Ihrer ersten Begegnung mit Chopins Musik? Philippe BIANCONI : Ich bin als Kind zum ersten Mal mit Chopin in Berührung gekommen, über die Aufnahme der Walzer ( Valses ) von Dinu Lipatti. Wie hoch die Verdienste dieser Stücke auch sein mögen – und Einige halten sie für sehr hoch – so vermittelten sie mir dennoch eine ein wenig eingeschränkte Vision der Welt des Komponisten. Am Konservatorium von Nizza hörte ich Schüler, die schon fortgeschrittener waren als ich, andere Werke des Musikers spielen. Als ich zehn oder elfwar,war dasHörender Balladen ein regelrechter Schock. Plötzlichentdeckte ich den epischen Chopin, der von einem großartigen Atem getragen wird. Die Leidenschaft, die in diesen Stücken zumAusdruck kam, war außergewöhnlich. Das Einstudieren der Balladen begann dann mit der vierten Ballade , es folgten Ballade 1, 3 und 2 . Paralleldazu erarbeitete ich die Scherzi , die Barcarolle , die Fantaisie usw. MeineLehrerininNizza,MadameDelbert-Février,warfürmeinenZugangzuChopin sehr wichtig. Sie legte in ihrem Unterricht den Schwerpunkt auf die Klangqualität und auf Phrasierung. Sie legte großen Wert auf das Nüchterne des Stils, zugleich aber war sie eine sehr lebhafte Person. Von ihrer Erscheinung her wirkte sie reserviert, in die Musik aber sowie in ihren Unterricht ließ sie viel Leidenschaft einfließen. Das war, wie mir scheint, besonders geeignet für die Beschäftigung mit Chopin: In ihm nämlich steckte das Nüchterne des Stils, die Ablehnung jeder Großspurigkeit und eine Gefühlsintensität, und dies alles zusammen genommen entsprach der wahren Natur des Komponisten. Die Balladen begleiten mich seit Beginn meiner Konzertistenlaufbahn. Ich habe nur selten alle vier im selben Konzert gespielt, aber sehr oft ein oder zwei von ihnen, zusammen mit anderen Werken Chopins.
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